2G und 2G+ Die Ausgrenzung der Ungeimpften muss enden

Stand: 18.01.2022 | Lesedauer: 8 Minuten

Von Kai Möller
Professor of Law an der London School of Economics.

Deutschland setzt in der Pandemie auf systematische Ausgrenzung. Zu 2G und 2G+ kommt offene Verachtung der Ungeimpften durch Politik und Medien. Aus Sicht eines Verfassungsrechtlers ist diese Diskriminierung unzulässig. In einem Punkt schadet sie sogar den Geimpften. "Bei einer solchen Dynamik läuten bei mir alle Warnglocken", sagt Rechtsprofessor Kai Möller
Quelle: picture alliance / CHROMORANGE/ Michael Bihlmayer; Kai Möller

In einer Demokratie werden politische Entscheidungen von der Mehrheit getroffen. Hieraus ergibt sich das Problem, dass die Mehrheit theoretisch die Interessen einer Minderheit ignorieren oder die Minderheit sogar tyrannisieren könnte (die "Tyrannei der Mehrheit"). Dies ist einer der Gründe, warum es in fast allen liberalen Demokratien einen gerichtlichen Schutz von Grund- und Menschenrechten gibt: Die Gerichte haben die Aufgabe, die Grund- und Menschenrechte, auch und gerade die von unbeliebten Minderheiten, gegen eine übergriffige, tyrannische Mehrheit zu schützen.

Weniges muss also einen Grund- und Menschenrechtler so hellhörig werden lassen wie der derzeit in Deutschland unter dem Label 2G stattfindende systematische Ausschluss der unbeliebten, ja weithin verachteten Gruppe der Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben. Die Ungeimpften können nicht mehr ins Restaurant, sie können vielerorts nicht mehr in den Einzelhandel, kulturelle Veranstaltungen, Sportstätten und viele andere öffentliche Orte sind für sie tabu, selbst Zusammenkünfte mit anderen Menschen sind extrem eingeschränkt. Einige Städte Baden-Württembergs haben soeben sogar nächtliche Ausgangssperren für Ungeimpfte verhängt.

Diese Situation wird untermalt von dem eifrigen Trommeln vieler Medien, in denen die Ungeimpften gerne als ungebildete, wissenschaftsfeindliche, fackeltragende, querdenkerische, im Grunde rechtsradikale oder sich zumindest radikalisierende, in der Tendenz gewaltbereite Unsympathen dargestellt werden.

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Bei einer solchen Dynamik läuten bei mir alle Warnglocken. Als überwiegend in England lebender und arbeitender Mensch fällt mir zudem noch besonders ins Auge, dass eine Ausgrenzung der Ungeimpften in England nicht existiert: Impfpässe werden nicht verwendet, eine Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht gibt es nicht. Die Ansprache der Ungeimpften durch die Politiker ist nicht belehrend und drohend, sondern respektvoll und ermunternd. Wo Tests erforderlich sind, testen sich Geimpfte wie Ungeimpfte gleichermaßen.

Und siehe da: Es geht auch so! Seit Mitte Juli 2021 sind fast alle Restriktionen abgeschafft, das Lebensgefühl ist frei, Corona trat mehr und mehr in den Hintergrund. Im Dezember kam es zu einer leichten Verschärfung aufgrund der Omikron-Welle; aber die Regierung bereitet sich darauf vor, diese Regeln - wie zum Beispiel eine Maskenpflicht in geschlossenen Räumen - am 26. Januar wieder abzuschaffen und alsbald zur Normalität zurückzukehren.

Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Eindrücke möchte ich in diesem Beitrag die Frage der Rechtfertigbarkeit der Ausgrenzung der Ungeimpften aus den drei Blickwinkeln der Klugheit, der Gerechtigkeit und der Ethik untersuchen.

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Erstens: Die politische Klugheit der 2G-Strategie kann man vor allem deshalb bezweifeln, weil sie nicht nur zu Ausgrenzung und Spaltung führt, sondern, wie Ulrike Guérot in einem WELT-Interview erklärte, Ausdruck praktizierter Ausgrenzung und Spaltung ist. Und selbstverständlich macht eine solche Ausgrenzung etwas mit den Adressaten: Druck erzeugt Gegendruck. Wut, Überheblichkeit und Zerrbilder aufseiten der Mehrheit führen zu Wut, Überheblichkeit und Zerrbildern aufseiten der drangsalierten Minderheit. Spannungen werden nicht durch gegenseitigen Respekt, durchs Miteinanderreden, durch Zuhören und gegebenenfalls Überzeugen abgebaut, sondern durch Konfrontation angefacht. Es ist ein Spiel mit dem Feuer.

Zweitens stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit und - eng damit zusammenhängend - der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der Ungeimpften. Ein mehr oder weniger offen vorgebrachtes Argument in diesem Zusammenhang lautet, dass durch die Ausgrenzung ein "Anreiz" für die Impfung gesetzt werden soll - gelegentlich wird hier auch von einem "Nudge" gesprochen. ("Nudging" ist eine in jüngerer Zeit in Mode gekommene Theorie, die empfiehlt, Bürger nicht zu ihrem Glück zu zwingen, sondern durch Anreize oder mehr oder weniger sanfte Manipulation zum für "richtig" befundenen Verhalten zu bewegen.)

Bei 2G handelt es sich allerdings nicht um einen Anreiz oder einen Nudge, sondern um eine radikale, repressive Freiheitseinschränkung. Ein Anreiz wäre zum Beispiel eine Prämie oder ein Steuerbonus für jeden, der sich impfen lässt - und darüber könnte man reden. 2G ist aber nichts dergleichen, sondern der Sache nach eine Nötigung. Denn ein freier Bürger muss sich sein Recht, in einem Geschäft einzukaufen, mit seinen Kindern ins Schwimmbad zu gehen oder Freunde zu treffen, nicht erst durch gutes Benehmen verdienen; insofern gibt es keinen Anlass, ihm dafür auf diesen Feldern "Anreize" zu setzen.

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Ein weiteres Argument für 2G ist, dass es den Geimpften Sicherheit gibt und Infektionen verhindert. Ob dieses Argument überzeugt, ist sowohl aus verfassungsrechtlicher wie auch aus moralischer Sicht eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Hierzu müssen im Kern die Schwere der Ungleichbehandlung gegen das öffentliche Interesse an einer Reduktion von Infektionen abgewogen werden.

Wir müssen uns also in einem ersten Schritt fragen, wie schwer die Ungleichbehandlung der Ungeimpften wiegt. Der im Moment praktizierte "Lockdown für Ungeimpfte" stellt zweifelsohne eine extreme Maßnahme dar. Dem wird nun entgegengehalten, dass es ja an den Ungeimpften selbst liege, diesen Zustand durch eine Covid-Impfung zu beenden. Einerseits ist richtig, dass die Ungleichbehandlung der Ungeimpften insofern nicht vergleichbar ist mit einer Ungleichbehandlung zum Beispiel aufgrund der Rasse, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Andererseits muss aber bedacht werden, dass die Ungleichbehandlung anknüpft an die Entscheidung darüber, sich eine Substanz in den Körper injizieren zu lassen, die dort eine physiologische Reaktion hervorruft. (Die beabsichtigte physiologische Reaktion und damit Veränderung des Körpers unterscheidet die Impfung von einer Blutabnahme im Rahmen einer Alkoholkontrolle.)

Ein freiheitlicher Staat hat die körperliche und geistige Integrität seiner Bürger zu respektieren. So respektiert ein freiheitlicher Staat die Gedanken- und Glaubensfreiheit sogar absolut - selbst Menschen, deren Gedanken oder Glaubensüberzeugungen hochgradig gefährlich sind, dürfen keiner Gehirnwäsche unterzogen werden. Und ein freiheitlicher Staat respektiert die körperliche Unversehrtheit insoweit absolut, als medizinische Behandlungen nicht gegen den Willen des Betroffenen stattfinden dürfen. Ein Staat, der sich anschickt, Körper und Geist seiner Bürger zu kontrollieren, ist übergriffig und handelt totalitär.

Man könnte daher sagen, dass die Ungleichbehandlung Ungeimpfter in etwa vergleichbar ist mit einer Ungleichbehandlung aufgrund politischer Überzeugung: So, wie ein Ungeimpfter der staatlichen Nötigung nachgeben kann und sich entgegen seiner womöglich sogar tiefen Überzeugung impfen lassen kann, weil er die soziale Isolation nicht mehr aushält, so kann ein Anhänger der CDU zum lautstarken Verfechter grüner Ideen werden, um den attraktiven Job im Ministerium zu bekommen.

Wir machen alle Kompromisse im Leben, aber gewisse Kompromisse sollte man möglichst nicht machen müssen, weil sie innerlich korrumpieren. Der Staat muss sich also extrem zurückhalten, durch indirekten Zwang auf die Körper seiner Bürger oder auf ihre politische Überzeugung einzuwirken. Daraus folgt, dass die Ungleichbehandlung der Ungeimpften sehr schwerwiegend ist, sowohl im Hinblick auf die Intensität der Maßnahmen (Ausschluss vom öffentlichen und sozialen Leben) als auch auf den Anknüpfungspunkt der Ungleichbehandlung (Entscheidung über eigene Impfung).

Im zweiten Schritt müssen wir nun das öffentliche Interesse untersuchen. Die Frage ist: Wie viel Schutz wird gewonnen durch 2G oder 2G+ im Gegensatz zur Alternative 3G? Man könnte auch fragen: Wenn wir tausend Geimpfte (oder: Geimpfte, Geboosterte und Getestete) in einem Raum haben und tausend negativ getestete Ungeimpfte in einem anderen Raum, wie viele Menschen werden danach jeweils im Schnitt infiziert und infektiös sein?

Soweit ich es überblicken kann, gibt es zu dieser Frage nur wenige belastbare Daten. Einerseits wissen wir, dass Geimpfte sich weiterhin anstecken und Viren ausscheiden - im Fall von Omikron wohl nicht markant seltener als Ungeimpfte. Andererseits ist auch bekannt, dass Schnelltests eine nicht unerhebliche Fehlerquote haben. Die Situation ist also empirisch uneindeutig, aber es scheint hier zumindest keine gravierenden Unterschiede zwischen ungetesteten Geimpften und getesteten Ungeimpften zu geben. Hinzu kommt natürlich, dass sich jeder impfen und boostern lassen kann, wodurch sich das individuelle Risiko zu einem allgemeinen Lebensrisiko reduziert, und dass sich, da das Virus nicht ausrottbar ist, sowieso die allermeisten früher oder später infizieren werden.

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Im dritten Schritt muss nun die Schwere der Ungleichbehandlung ins Verhältnis gesetzt werden zum öffentlichen Interesse an einer Reduktion der Infektionen. Da die Ungleichbehandlung extrem schwerwiegend ist und das öffentliche Interesse eher spekulativ und selbst im "besten" Fall allenfalls moderat zu gewichten ist, fällt die Abwägung klar gegen 2G aus. Daher ist die Ungleichbehandlung der Ungeimpften unverhältnismäßig und somit eine unzulässige Diskriminierung.

Drittens und abschließend möchte ich das Problem der Ungleichbehandlung der Ungeimpften aus dem Blickwinkel der Ethik betrachten, womit ich die Frage des guten oder gelungenen Lebens meine. Was macht es mit der geimpften Mehrheit, die Minderheit der Ungeimpften so ausgrenzend zu behandeln? Jeder kennt von sich selbst, dass Wut, Verachtung und Überheblichkeit, so verständlich sie im Einzelfall sein mögen, auch die eigene Seele verdunkeln. Philosophisch gewendet und mit dem liberalen Denker Ronald Dworkin gesprochen: Wer andere nicht als Gleiche respektiert, sondern ausgrenzt und diskriminiert, der respektiert in Wirklichkeit auch sich selbst nicht. Insofern bringt eine liberale Haltung, die die Diskriminierung der Ungeimpften beendet, nicht nur eine gerechte, mit den Werten der Verfassung im Einklang stehende Lösung hervor, sondern auch eine innere Befreiung für jeden, der sich diese liberale Haltung zu eigen macht.

In Deutschland fällt mir auf, wie viel über die Ungeimpften geredet wird, wie sehr dies von Frust und moralischer Überheblichkeit geprägt und wie wenig es darauf ausgerichtet ist, aus der Pandemie herauszukommen. Während Deutschland seit Wochen über die allgemeine Impfpflicht diskutiert, die wahrscheinlich nie kommen wird, löst England das Problem der Omikron-Welle pragmatisch und bereitet sich inzwischen auf die Rückkehr zur Normalität vor.

Ich möchte das Pandemiemanagement der britischen Regierung nicht verklären: Es gibt viele Ungereimtheiten, die Lockdowns waren sehr, vielleicht sogar unmenschlich hart, die handelnden Akteure sind zum Teil dubiosen Charakters. Aber im Mutterland des Liberalismus gibt es für Frust und moralische Überheblichkeit über die Ungeimpften politisch schlicht keinen Platz. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass die Menschen dort intuitiv spüren, dass es sich ohne diese schädlichen Haltungen und negativen Emotionen einfach besser lebt. Die selbstverständliche Gleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften ist nicht nur politisch klug und gerecht; sie ist auch ein ethischer Befreiungsschlag für die Geimpften. Deutschland sollte 2G schleunigst abschaffen.


Quelle: welt.de